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Unser Gehirn lernt immer - aber nicht immer das, was es soll

Lernen an sich ist überhaupt kein Problem für unser Gehirn! Neues zu lernen, aber schon – besonders wenn sich dieses Neue nicht an unsere vorhandenen Schablonen andocken lässt.

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Dies ist Teil 10 der 10-teiligen Blog-Serie "Motivation ist machbar … aber anders als viele denken"

In jedem Moment unseres Lebens nehmen wir etwas wahr. Unser Gehirn verarbeitet ständig neue Informationen. Für unseren Autopiloten spielt neben dem Aufbau grundlegender Muster beziehungsweise Programme die laufende Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung dieser Programme eine wichtige Rolle. Auf diese Weise lernen Sie mehr, als Sie glauben, denn das passiert in vielen Fällen ganz von alleine – oft bekommen wir gar nichts davon mit.

Unser Gehirn arbeitet jedoch nicht analytisch, sondern eher semantisch. Wir nehmen nicht laufend einzelne Signale wahr, die bewusst überprüft, gewichtet und bewertet werden; stattdessen erfasst unser Gehirn eine Situation oder ein Signalbündel immer als Ganzes; es versucht den Gesamtzusammenhang zu verstehen. Die wahrgenommenen Signale gleicht es mit bereits erlebten oder beobachteten Erfahrungen ab und sucht passende Erklärungsschablonen dazu. Und je öfter eine einmal erlernte Erklärungsschablone aktiviert wird, desto mehr verfestigt sie sich.

Immer häufiger ist zu hören, man sollte auch lernen, Dinge wieder zu verlernen, um offen für Neues zu sein, doch unser Gehirn funktioniert so nicht. Es ist begierig nach LAB, nach Lob, Anerkennung und Bestätigung der vorhandenen Muster beziehungsweise Schablonen.

Wir sehen das bei der Entwicklung der Elektroautos. Statt neuer Fahrzeugkonzepte werden einfach alte Muster übertragen; das heißt, vorhandene Autos werden elektrifiziert und über neue Materialien leichter gemacht. Das ist wie bei der Erfindung der ersten Automobile, als einfach Kutschen motorisiert wurden. So entsteht etwas Neues, das unserem Gehirn trotzdem bekannt vorkommt (früher: Kutsche ohne Pferd, heute: VW-Golf mit E-Motor) und deshalb von vielen Menschen schneller akzeptiert wird.

Lernen an sich ist überhaupt kein Problem für unser Gehirn! Neues zu lernen, aber schon – besonders wenn sich dieses Neue nicht an unsere vorhandenen Schablonen andocken lässt.

Eine besondere Rolle beim Lernen spielen Signale, die eine biologische Bedeutung für uns haben und deshalb von unserem Gehirn entsprechend mehr beachtet werden. Zum Beispiel sind das alle Signale und Bilder, die etwas mit Sex zu tun haben. Nicht umsonst hält sich der alte Marketingspruch „Sex sells“ nach wie vor hartnäckig; und in diesem Fall müssen wir die biologische Bedeutung wohl auch nicht weiter erläutern. Ohne Sex hätte sich das Internet wahrscheinlich nicht so schnell verbreitet; so führten dort in den frühen Jahren Begriffe wie „Sex“, „Porn“ oder „XXX“ die Hitliste der meistgesuchten Begriffe an. Wer weiß, vielleicht hat genau dieses Signal auch dafür gesorgt, dass ehemals wenig computeraffine Nutzer plötzlich einen handfesten Vorteil in der Nutzung dieses neuen Mediums sahen. Viele Produkte (beispielsweise aus den Bereichen Kosmetik, Düfte, Körperpflege) setzen dieses Thema werblich um, um von unserem Gehirn als relevant wahrgenommen zu werden.

Subtiler wird es im Bereich Nachrichten. Hier gilt: „Only bad news are good news.“ Je schlechter oder schlimmer die Nachricht, desto höher die Aufmerksamkeit. So gibt es praktisch kein Nachrichtenformat, das sich auf gute Nachrichten konzentriert. Aus biologischer Perspektive ist es verständlich, dass mehr Aufmerksamkeit bekommt, was eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten könnte. Und da Aufmerksamkeit gleichzeitig Auflagenzahlen bedeutet, hat sich die Nachrichtenindustrie darauf ausgerichtet, primär schlechte Nachrichten zu liefern. Die meisten davon haben zwar keinerlei praktische Auswirkungen auf uns, weil sie für uns keine realen Risiken darstellen, sie fesseln aber trotzdem unsere Aufmerksamkeit. Und die gefühlte Bedrohung reicht oftmals schon aus, dass wir sie als real erleben.

Unsere Wahrnehmung bestimmt unsere Wirklichkeit. Je höher die biologische Relevanz eines Signals ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir es wahrnehmen.

Mit Nachrichtensendungen oder Krimis ist es wie mit kalorienhaltigem Essen: Sie geben uns ein gutes Gefühl, übermäßiger Verzehr ist jedoch tendenziell schädlich. So, wie sich starkes Übergewicht negativ auf die Leistungsfähigkeit des Körpers auswirkt, können negative Programmierungen des Autopiloten zu limitierenden Glaubenssätzen führen, die unsere mentale Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Achten Sie deshalb darauf, mit welchen Informationen Sie Ihr Gehirn füttern, und gehen Sie vor allem mit Nachrichten und Werbung wohldosiert um.

Wie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in einem Experiment beweisen konnte, neigen die meisten von uns dazu, sich die Nachrichten herauszupicken und zu verbreiten, die besonders gut zu unseren individuellen Meinungen und Vorurteilen passen. Die so entstehenden Ängste haben mit dem eigentlichen Gefahrenpotenzial häufig wenig zu tun, werden durch den fortlaufenden Austausch aber weiter verstärkt. Da sich dieser Prozess auf der Ebene unseres Autopiloten abspielt, fühlt sich so eine vermeintliche Gefahr erst einmal real an. Dazu ein Beispiel: 

Was, meinen Sie, ist gefährlicher – Schusswaffen oder Swimmingpools?

In den USA liegt das Risiko für Kinder unter zehn Jahren, in einem Swimmingpool zu ertrinken, bei circa 1 : 11.000. Bei circa sechs Millionen Pools kommen pro Jahr etwa 550 Kinder so zu Tode. Für die gleiche Gruppe ist das Risiko, durch Schusswaffen ums Leben zu kommen, weitaus geringer. Die Wahrscheinlichkeit, beim Spielen mit einer Schusswaffe zu sterben, liegt bei circa 1 : 1.000.000. Bei circa 200 Millionen Schusswaffen in den USA sterben so jährlich etwa 175 Kinder unter zehn Jahren. Aber wann haben Sie zum letzten Mal eine Pressemeldung über ein im Pool ertrunkenes Kind in den USA gelesen?

Das gefühlte Risiko setzt sich zusammen aus „Gefahr + Empörung“. 

Das führt dazu, dass bei einer großen Gefahr und geringer Empörung (beispielsweise Ertrinken oder Tod durch Herzkrankheit) das Risiko unterschätzt wird. Bei geringer Gefahr und hoher Empörung (Schusswaffen, Terroranschläge) dagegen wird das Risiko stark überschätzt. Die Konsequenz daraus ist zum Beispiel, dass es sehr viel wahrscheinlicher ist, eine breite Zustimmung in der Bevölkerung für den Kampf gegen den Terror zu bekommen als für eine gesündere Ernährung.

Eine besondere Bedeutung kommt den sozialen Medien zu. Informationen können in kürzester Zeit mit anderen geteilt werden. Das ist an sich eine feine Sache, hat aber auch weitreichende Folgen. Denn für unser Gehirn spielt die wahrgenommene Relevanz einer Information die beherrschende Rolle – und relevant ist in dem Falle das, womit sich viele beschäftigen beziehungsweise was viele Menschen teilen. Wenn das nun Nachrichten sind, die eine hohe biologische Relevanz haben (Bedrohung, Gefahren, Tod und Verderben), führt das zu einer systematischen Verschiebung unserer Risikowahrnehmung. Besonders wenn diese Nachrichten nicht sachlich formuliert, sondern emotional eingefärbt sind. Dazu kommt, dass es uns ein gutes Gefühl verschafft, wenn wir für unsere individuelle Interpretation der Wirklichkeit Lob, Anerkennung und Bestätigung von Gleichgesinnten erhalten.

Aber wie das zunehmend in Mode gekommene Schimpfwort der „Lügenpresse“ zeigt, sind offenbar immer weniger Menschen dazu bereit. Dabei ist es nicht nur der rechte Rand des politischen Spektrums, der sich durch die „Lügenpresse“ „verunglimpft fühlt; auch Veganer schimpfen beispielsweise als Reaktion auf einen Artikel der Tageszeitung DIE WELT mit dem Titel „So gefährlich ist vegane Ernährung für Kinder“ auf die „Massentierhaltungslobby und ihre Propagandamagazine“. Statt einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Artikel, der mit der Aussage „Manche Kinder wachsen ohne Fleisch, Milch und Eier auf, weil ihre Eltern es so wollen. Wenn man alles richtig macht, kann das gut gehen. Wenn nicht, kann das langfristige Schäden nach sich ziehen“ beginnt, reicht offenbar auch ein kurzes polemisches Statement, damit das eigene Weltbild nicht aus dem Lot gerät.

Wir können uns durch ein bewusst kritisches Hinterfragen solcher Nachrichten schützen, indem wir selbst nach weiteren sachlichen Informationen suchen und die Zuverlässigkeit unterschiedlicher Quellen kritisch prüfen und bewerten.

Das ist kein neues Phänomen. Schon der Experimentalphysiker und Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) soll gesagt haben: „Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“ Lichtenberg, der als Begründer der modernen naturwissenschaftlichen Methodik gilt, hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, naturwissenschaftliche Thesen zu untersuchen und experimentell zu überprüfen: „Je mehr sich bei Erforschung der Natur die Erfahrungen und Versuche häufen, desto schwankender werden die Theorien. Es ist aber immer gut, sie nicht gleich deswegen aufzugeben. Man sollte die widersprechenden Erfahrungen besonders niederlegen, bis sie sich hinlänglich angehäuft haben, um es der Mühe wert zu „machen, ein neues Gebäude aufzuführen.“ Dieses Statement könnte man auf folgende Kurzform verdichten:

Wissenschaft ist, was Wissen schafft, statt lediglich einmal gefasste Vorurteile zu zementieren – und das ist nicht einfach; denn wie wir gesehen haben, sucht unser Autopilot eher nach Bestätigung und neigt dazu, lieber simple und stimmige Erklärungen zu akzeptieren, als Sachverhalte detailliert zu prüfen.

Menschen mit einer starken Ausprägung der Blau-Komponente im Structogram haben an dieser Stelle einen gewissen Startvorteil, weil sie von Natur aus sachlicher, analytischer und kritischer denken und handeln. 

Für alle anderen sollte gelten: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt, denn jeder Mensch ist für die Qualität seiner individuellen Vorurteile selbst verantwortlich!

=> zurück zum Einführungs-Artikel "Motivation ist machbar, aber anders als viele denken", veröffentlicht am 26. Mai 2021

=> zurück zu Teil 1 "Wie werden Menschen so wie sie sind?", veröffentlicht am 2. Juni 2021

=> zurück zu Teil 2 "Der genetische Code der Persönlichkeit", veröffentlicht am 9. Juni 2021

=> zurück zu Teil 3 "Balance oder Burnout?", veröffentlicht am 16. Juni 2021

=> zurück zu Teil 4 "Was Menschen wirklich antreibt?", veröffentlicht am 23. Juni 2021

=> zurück zu Teil 5 "Go Great" veröffentlicht am 30. Juni 2021

=> zurück zu Teil 6 "Wir müssen nur wollen", veröffentlicht am 7. Juli 2021

=> zurück zu Teil 7 "Wie Lernen und persönliche Entwicklung gelingen", veröffentlicht am 14. Juli 2021

=> zurück zu Teil 8 "Was wirkt besser: Die sanfte oder die harte Tour?", veröffentlicht am 21. Juli 2021

=> zurück zu Teil 9 "Belohnung und Bestrafung - Vorsicht vor Risiken und Nebenwirkungen", veröffentlicht am 28. Juli 2021

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: 
Ralf China, Juergen Schoemen „Sei du selbst, sonst geht’s dir dreckig - warum Erfolg nicht mit Patentrezepten, sondern nur individuell machbar ist.“